„I Care A Lot“ auf Netflix: Herzloser Höllenspaß (2024)

Alles ist clean an dieser Frau, selbst der Rauch, den sie mit ihrer E-Zigarette auspafft. Mit ihrem blond-betonierten Bob könnte sie einem Hitchco*ck-Film entsprungen sein. Marla Grayson ist eine eisige Femme fatale, die es immer wieder schafft, Skeptiker mit ihrem aufgesetzten Hochglanzlächeln für sich zu gewinnen. An ihren knalligen Hosenanzügen, gerne in Kirschrot und Sonnengelb, tropfen Zweifel einfach ab. Überhaupt strahlt der ganze Film in übersättigten Farben und Sonnenschein, als hätte er sich Marlas raubtierhaftes Grinsen übergestülpt. "I Care A Lot" von J Blakeson ist ein herzloser Film, man kann es nicht anders sagen, aber gerade in seiner Kaltschnäuzigkeit auch einHöllenspaß.

Das liegt vor allem an Marla, die eine so herrlich überzeichnete Kinofigur ist, dass man ihr mit Freude beim Straucheln zusehen möchte. Das Beunruhigende an ihr ist jedoch, dass sie auf einem mehr als realen Geschäftsfeld agiert: Marla ist gerichtlich bestellter Vormund für Senioren, die nicht mehr für sich selbst sorgen können, ein fraglos ehrenwerter Job, möchte man meinen. "I Care A Lot" könnte auch der Slogan ihrer Firma sein, denn die aalglatte Marla hat einen eigenen Industriezweig darausgemacht.

Sie pickt sich die Kirschen heraus, die "cherries" - wohlhabende Rentner, am besten ohne Familie, die sie nahezu unkontrolliert ausnehmen kann. Wenn keine gute Ware verfügbar ist, hilft sie auch gerne mal nach. Dafür hat sie sich ein mafiöses Netzwerk aus Ärzten und Heimbetreibern zusammengestellt, das die Vorauswahl trifft und ganz nebenbei die Hand aufhält. Gleich zu Beginn lässt sie vor Gericht eine vermeintlich hilflose Omi für unzurechnungsfähig erklären, denn sie handelt natürlich vollkommen legal: "Das Betreuen ist mein Job!" Zurück im Büro schlägt sie bei ihren Mitarbeitern ein - Jackpot. Das Szenario klingt ebenso überzeichnet wie ihre Figur, ist jedoch in den USA keinEinzelfall.

Für Marla ist ihre Macht auch ein Statement gegen das Patriarchat

Als Drama wäre diese Konstellation nahezu unerträglich, daher tut der britische Filmemacher J Blakeson gut daran, die Absurdität dieses materialistischen und moralisch völlig entgleisten Systems ins Zentrum zu rücken. "I Care a Lot" ist eine bitterböse Parabel über Machtstrukturen, und Marla Grayson ist deren Personifikation. Sie ist kein Monster per se, sondern eine durchorganisierte und selbstoptimierte Kapitalistin, eine monströse Manipulatorin. Professionalität ist alles und lässt sie unbeschadet von Situation zu Situation gleiten. Für Marla ist ihre Macht auch ein Statement gegen das Patriarchat. "Ich bin kein Lamm, ich bin eine verdammte Löwin!", sagt sieeinmal.

Einmal spuckt ihr der Sohn einer Schutzbefohlenen ins Gesicht, und sie droht die Fassung zu verlieren, baut sich dann aber mit süffisantem Blick vor ihm auf: "Wenn Sie mich noch einmal bedrohen, anrühren oder anspucken, dann reiße ich Ihnen die Eier ab." Die Britin Rosamund Pike hat in Marla eine Paraderolle gefunden und spielt sie mit so viel Lust, dass man zweimal hinschauen muss, um sicherzugehen, dass sie keine Giftspur hinter sich herzieht. Ihre Mimik ist ein Schauspiel für sich, ein zuckender Mundwinkel hier, eine gehobene Augenbraue da, und obendrein nickt niemand so verständnisvoll und zugleich selbstgerecht wiesie.

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Man wartet daher beinahe verzückt darauf, dass Marla auf eine ihr ebenbürtige Figur trifft, die sie mit ihren eigenen Waffen schlägt. Auftritt Jennifer Peterson, gespielt von der wunderbaren Dianne Wiest, auf den ersten Blick ein Volltreffer für Marlas Geschäft. In einem der wenigen ehrlich anrührenden Momente des Films wird sie zu Recht entgeistert aus ihrem Haus abgeführt, in einem Heim sediert und vor den Fernseher gesetzt. Durch den Drogennebel ringt sie sich noch ein boshaftes Lächeln in Richtung Marla ab: "Ich bin der schlimmste Fehler, den Sie je gemachthaben."

Was folgt, ist ein Sturm aus aberwitzigen Handlungswendungen, die den Film in einen Rachethriller verwandeln. Die niedliche Mrs Peterson entpuppt sich als ein Scheusal der anderen Art: Diamantengeschäfte, Entführungen, zudem eilt Peter Dinklage ihr in einigen ulkigen Auftritten als befreundeter Drogenboss zu Hilfe - viel für einen Film, dessen Stärke in seiner anfänglichen Reduktion und der daraus resultieren Grausamkeit liegt. Aber das schadet nichts, denn Blakeson bricht gänzlich mit dem Grundsatz, dass irgendeine Figur sympathisch sein sollte, und erstaunlicherweise geht seine nihilistische Rechnung auf. Man wünscht sich, dass sie sich allesamt gegenseitig in die Pfanne hauen, bis keiner mehr übrig ist - und manchmal werden Wünsche ja immer nochwahr.

I Care a Lot, USA 2020 - Buch und Regie: J Blakeson. Kamera: Doug Emmett. Mit: Rosamund Pike, Peter Dinklage, Dianne Wiest. Länge: 118 Minuten, auf Netflix.

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